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"In jedem eng gesteckten Rahmen gibt es Raum für eigene Gestaltung"

Interview mit Gerald Hüther

6. September 2021

Gefangen im Alltagstrott? Schon innerlich gekündigt? Wer in seinem Job keine Erfüllung mehr findet und seine Kreativität nicht mehr einbringt, lebt gefährlich, sagt Gerald Hüther. Im Interview rät der Neurobiologe Gerald Hüther*: Erkämpfen Sie sich Ihren Gestaltungsraum zurück.

Herr Hüther, warum sind so viele Menschen in ihrem Beruf im Alltagstrott gefangen?

Gerald Hüther: Unsere Arbeitswelt und die meisten Unternehmen sind so gestrickt, dass viele Mitarbeiter sich dort nicht als eigenständig handelnde Subjekte erleben. Alles, was sie zu tun haben, ist genau vorgegeben. Sie werden zu Objekten der Erwartungen, Beurteilungen und Maßnahmen anderer gemacht. Damit geht auch jede Form von Entdeckerfreude, Kreativität und Gestaltungslust verloren, denn der Gestaltungsraum fehlt. 

Und das sollte man nicht so hinnehmen?

Hüther: Auf keinen Fall. Das Schlimmste, was man machen kann, ist, sich damit abzufinden, dass man keinerlei eigenen Spielraum mehr hat. Es hilft auch nichts, auf diejenigen zu schimpfen, die einem diesen vorenthalten. 

Was kann man also stattdessen tun? 

Hüther: Jeder Mitarbeiter ist in der Lage, den ihm zur Verfügung stehenden eigenen Gestaltungsraum auszuweiten, er kann Platz für die eigenen Ideen und die eigene Kreativität suchen. Das geht überall: Ich nehme gern das Beispiel einer Klofrau. Man würde denken, sie hat in ihrer Tätigkeit überhaupt keinen Gestaltungsspielraum. Aber statt sich darüber zu ärgern, dass die Herren auf dem Männerklo ständig daneben pinkeln und Schilder mit entsprechenden Hinweisen und Ermahnungen anzubringen, kann sie ja auch versuchen, diesen Ort etwas freundlicher und liebevoller zu gestalten, schöne Bilder aufzuhängen, Räucherstäbchen aufzustellen und den Besuch für die Männer so angenehm wie möglich zu machen. Das Ergebnis ist, dass sich der Besucher wertgeschätzt fühlt und sich deshalb sehr wahrscheinlich auch mehr Mühe gibt. Das Ergebnis: Sie hat weniger Arbeit und mehr Freude dabei. 

Gelingt das auch in einem Bürojob?

Hüther: In jedem noch so eng gesteckten Rahmen gibt es immer Raum für die eigene Gestaltung. Den kann man aber nur finden, wenn man ihn auch sucht. Dafür müsste man sich aber fragen: Was von dem, was ich hier tue, ist aus mir selbst erwachsen? Und was tue ich nur, weil ich es tun muss oder mir etwas davon verspreche? Und wenn es mehrere Mitarbeiter in einem Team gibt, die diesen eigenen Gestaltungsraum zu öffnen beginnen, dann wird dieser Raum noch größer und plötzlich ist darin gemeinsam sehr viel möglich. Wichtig ist: Dazu müssten allerdings alle ein gemeinsames Anliegen verfolgen, dass ihnen wichtiger ist als ihre jeweiligen Einzelinteressen.

Müsste der Chef nicht den Spielraum und die Ziele vorgeben?

Hüther: Ganz so einfach ist es nicht, denn wenn er so einen Gestaltungsraum selbst vorgibt, macht er die Mitarbeiter ja wieder zu Objekten einer Maßnahme. Das gleiche passiert, wenn man von oben verordnet: Wir werden jetzt agiler. Der Chef müsst daher die Mitarbeiter ermutigen, sich selbst diese Räume zu schaffen und dort zu ‚machen, was sie wollen’ – im besten Sinne des Wortes. Dann hat er sie vom Objekt wieder zum Subjekt gemacht. Das vergisst man nicht wieder. Das berührt manche tiefer als der erste Kuss.

Macht sich der Chef dann nicht selbst überflüssig?

Hüther: Als Manager und Dompteur schon, aber nicht als Visionär und Ermöglicher. Das entspricht auch eher dem Erfolgsmodell der Primaten: In diesen individualisierten Gemeinschaften ist einer der Chef beim Jagen, einer beim Sammeln, einer kann am besten kochen. Es geht nur gemeinsam und jeder, der nicht mitmacht, ist ein Verlust für alle. Jeder hat ein großes Potential und wird wertgeschätzt. Für die Mitarbeiter ist es existenziell wichtig, ihre Fähigkeiten einbringen zu können.

Inwiefern?

Hüther: Wer als Objekt arbeitet, innerlich schon abschaltet und selbst fast genauso so gut funktioniert wie eine Maschine, kann sich sicher sein, dass er über kurz oder lang auch durch eine Maschine ersetzt wird. Roboter und Algorithmen werden solche beschreibbaren Tätigkeiten in Zukunft übernehmen. Kreativität, Innovation und Handeln mit einer Vision vor Augen macht uns zu Menschen – und damit unentbehrlich.

Das Interview führte Maria Zeitler anlässlich der NWX19 von XING

*Zur Person: Gerald Hüther war Professor für Neurobiologe in Göttingen. Er hat die „Akademie für Potentialentfaltung“ gegründet, die Menschen in Gemeinschaften, in Unternehmen, Organisationen oder Städten und Gemeinden beim Aufbau einer Potentialentfaltungskultur unterstützt. Das Buch dazu: „Wie Träume wahr werden“.

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