Das Schweizer Unternehmen Flowit will mit einer neuen, KI-unterstützten App die Personalführung revolutionieren – und richtet ihren Blick dabei auch auf eine Gruppe, die bei New-Work-Entwicklungen oft übersehen wird: Blue-Collar-Fachkräfte. Co-Gründerin Yasemin Tahris* erklärt im Interview mit dem NWX Magazin, wie Künstliche Intelligenz hilft, Mitarbeitende besser zu verstehen, Führungskräfte zu entlasten und die Arbeitswelt fairer zu gestalten.
NWX Magazin: Yasemin, Euer Unternehmen bietet digitale Personalentwicklung für Frontline-Worker. Wie kam es zu dieser Idee?
Yasemin Tahris: Unser Kerngeschäft sind digitale Lösungen zur Personalentwicklung und -bindung, also Maßnahmen, die darauf abzielen die Leistung der Mitarbeitenden zu steigern und das Empowerment zu fördern. Ein wichtiges Tool sind beispielsweise Zielvereinbarungen und Entwicklungsgespräche, für die wir digitale Unterstützung anbieten. Ich komme selbst aus einer Arbeiterfamilie mit Migrationshintergrund und habe mich schon immer für das menschliche Verhalten am Arbeitsplatz interessiert. Nach meiner Ausbildung zur Fachfrau für Gesundheit in Zürich habe ich deshalb berufsbegleitend Psychologie studiert und 2020 im Bereich Arbeits- und Organisationspsychologie promoviert.
Du warst also zu Beginn Deiner Karriere selbst eine Blue-Collar-Fachkraft ...
Tahris: Ja, als Krankenschwester habe ich mehrere Jahre in einem großen Pflegezentrum gearbeitet und oft erlebt, dass Entscheidungen umgesetzt wurden, ohne die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter einzubeziehen. Ein Beispiel: Im Zuge einer Organisationsoptimierung wurden alle Pflegekräfte abhängig vom Ausbildungsstand in drei Kompetenzstufen eingeteilt, die unterschiedlich anspruchsvolle Aufgaben ausführen dürfen. Das jeweilige Level stand dann auch auf dem Namensschild. Das erwies sich für viele Pflegekräfte als sehr demotivierend, weil die Patienten gegenüber B- oder C-Kräften plötzlich skeptisch waren und lieber eine A-Kraft wollten. Heute weiß ich: Das hätte man auch gescheiter umsetzen können.
Es ging doch aber um sichere Arbeitsabläufe, also eine notwendige Entscheidung?
Tahris: Ja natürlich, im Interesse der optimalen Patientenversorgung war die Maßnahme sinnvoll. Es wurde jedoch zu wenig über die Auswirkungen auf die betroffenen Menschen nachgedacht: Was bedeutet die neue Regel für Pflegekräfte? Wo liegen Vorteile und Chancen? Wie können sie skeptischen Patientenfragen begegnen? Darüber wurde vorher nicht gesprochen und daran hat sich in vielen Berufen auch wenig geändert. Ich glaube aber fest daran, dass jeder Mensch im Unternehmen zählt und mit einbezogen werden sollte.
Was möchtet Ihr mit Flowit konkret verbessern?
Tahris: Gerade Blue-Collar-Kräfte bleiben bei New Work Themen wie Lebenslanges Lernen, selbstbestimmtes Arbeiten, Inklusion oder Mitsprache oft außen vor, weil sie nicht am Computer arbeiten und zum Teil auch wegen sprachlicher Barrieren. Bei Flowit wollen wir die Digitalisierung und neue Technologien wie Künstliche Intelligenz nutzen, um alle Menschen im Unternehmen zu erreichen und ihnen eine Stimme zu geben, egal welche Aufgabe sie ausführen. Zum Beispiel auch LKW-Fahrer oder Reinigungspersonal.
Eure Kunden sind Unternehmen. Welche Funktionen bietet ihnen die App?
Tahris: Unser Kerngeschäft sind digitale Lösungen zur Personalentwicklung und -bindung, also Maßnahmen, die darauf abzielen die Leistung der Mitarbeitenden zu steigern und das Empowerment zu fördern. Ein wichtiges Tool sind beispielsweise Zielvereinbarungen und Entwicklungsgespräche, für die wir digitale Unterstützung anbieten.
Ein Jahresgespräch mit dem Chatbot – ist das nicht eher gruselig als wertschätzend?
Tahris: Das Gespräch findet selbstverständlich weiterhin persönlich statt und wird auch nicht aufgezeichnet. Nicht zuletzt aus eigener Erfahrung weiß ich aber: In vielen Organisationen werden Führungskräfte mit dieser wichtigen Aufgabe allein gelassen. Fachlich sind sie zwar top, aber nicht in Personalentwicklung ausgebildet. Ich selbst fand es früher nicht sehr motivierend, einmal im Jahr Kreuzchen auf einer Liste zu machen und auch meine Vorgesetzten wirkten auf mich damals eher ratlos. Hier setzen wir mit Flowit an. Unser KI-Coach hilft Führungskräften, die richtigen Fragen zu formulieren, bevor sie ins Gespräch gehen. Anschließend unterstützt die App sie dabei, konkrete Ergebnisse und Entwicklungsziele aus dem Gespräch abzuleiten
Bitte erkläre etwas genauer, wie so ein Entwicklungsgespräch mit Flowit abläuft?
Tahris: Im Vorfeld erhalten Mitarbeitende einen digitalen Fragebogen, der sich an den Erkenntnissen und Methoden der Positiven Psychologie orientiert. Wir fragen also nicht einfach: Wie war Deine Leistungsfähigkeit auf einer Skala von 1 bis 10? Sondern eher: Was waren deine Highlights im letzten Jahr? Der KI-Bot hakt dann gezielt nach: Was hat Dir dabei geholfen? Was könnten für Dich weitere Highlights im nächsten Jahr sein? Was brauchst Du dafür? Die KI fasst die Antworten für die Führungskraft zusammen und schlägt konkrete Gesprächspunkte vor.
Das klappt auch ohne PC-Arbeitsplatz?
Tahris: Ja, die App funktioniert auf jedem beliebigen Device, zum Beispiel auf dem Firmenhandy oder -tablet. Viele verwenden auch freiwillig ihr privates Smartphone. Oder es gibt einen Desktop in der Filiale oder im Backoffice. Die App ist sehr intuitiv und niederschwellig mit vielen grafischen und spielerischen Elementen und unterstützt aktuell 140 Sprachen
Individuelle Leistungen und Ziele sind sensible Themen. Wie stellt Ihr sicher, dass der KI-Bot nicht daneben liegt?
Tahris: Unser KI-Coach ist trainiert auf Personalentwicklung basierend auf wissenschaftlich evaluierten Theorien und relevantem Forschungswissen. Die Qualität des Output wird von uns regelmäßig kontrolliert. Dennoch sensibilisieren wir unsere Anwender für die Grenzen. KI-generierte Inhalte sind bei Flowit stets als solche gekennzeichnet. 100 Prozent Treffgenauigkeit können wir nicht gewährleisten – aber das schafft auch kein Mensch. Bei Flowit waren übrigens vom ersten Tag an absolute KI-Pioniere am Werk. Einer von ihnen, Sebastian Heinz, war während des Studiums mein Nachhilfelehrer in Statistik. Inzwischen leitet er den AI Hub Frankfurt.
Hast Du schon immer davon geträumt, eines Tages ein Startup zu gründen?
Tahris: (lacht) Nein, ich war sehr glücklich in der Wissenschaft und habe mich eher als Professorin gesehen. Mein Mann Bilal leitet ein größeres Handwerksunternehmen und brauchte eine Lösung, die mitwächst. Die erste Version der App haben wir 2017 also nur für den Eigenbedarf entwickelt, doch dann wollten sie plötzlich alle haben. 2020 haben wir uns deshalb entschieden, daraus ein Unternehmen zu machen und Flowit zu gründen. Inzwischen haben wir 70 zahlende Kunden und machen einen Umsatz von 1,5 Millionen Schweizer Franken.
Wo soll die Reise hingehen?
Tahris: Wir wollen europaweit expandieren und haben bereits erste Kunden in Deutschland, Frankreich und den nordischen Ländern. Das Geschäftsmodell ist sehr gut skalierbar, unser CFO hat kürzlich die Zielmarke von 100 Millionen Euro Umsatz bis 2030 ausgegeben. Wenn wir in der Nähe davon landen, bin ich schon sehr zufrieden. Mein persönliches Ziel: Die Digitalisierung nutzen, um allen Mitarbeitenden im Unternehmen eine Stimme zu geben. So können wir Bildung für alle ermöglichen, Diversity im Arbeitsalltag verankern und die Debatte rund um "New Work" mit wirklich allen führen.
Das Interview führte Kirstin von Elm
*Zur Person: Die Schweizerin Yasemin Tahris ist promovierte Organisationspsychologin und erfolgreiche KI-Gründerin. Ihr Startup Flowit bietet digitale Personalentwicklung mit Hilfe von KI – nicht nur für Menschen mit einem PC-Arbeitsplatz, sondern auch für Blue-Collar-Fachkräfte in Bereichen wie Produktion und Logistik, Gastronomie oder Gesundheitswesen. 2024 gewann Flowit den Swiss Economic Award als bestes Jungunternehmen in der Schweiz, auch deutsche Unternehmen zählen bereits zu den Kunden.