Prof. Dr. Martin Korte arbeitet als Neurobiologe an der TU Braunschweig. In seinen Forschungsarbeiten beschäftigt er sich unter anderem mit der Wissenschaft des Lernens. Im Vorfeld seines Auftritts beim XING Event mit dem Arbeitgeberverband Region Braunschweig* erzählt er im Interview mit dem NWX Magazin, warum unser Gehirn jung bleibt, wenn wir uns weiterentwickeln und warum innere Widerstände bei der Potentialentfaltung ganz natürlich sind.
NWX Magazin: Was verstehen Sie aus neurobiologischer Sicht unter Potentialentfaltung?
Prof. Dr. Martin Korte: In der Neurobiologie gibt es zwei Ansätze zur Potentialentfaltung. Einerseits kann man versuchen, innerhalb seines genetisch vorgegebenen Rahmens möglichst viel für sich zu erreichen. Dabei spielen auch Training und Durchhaltevermögen eine wichtige Rolle. Ein 100-Meter-Läufer beispielsweise hat bestimmte körperliche Voraussetzungen. Wenn er eine hohe Begabung hat, dann wird er bei gleichem Training die 100 Meter immer schneller laufen als jemand, der eine geringere Begabung hat. Wenn aber der andere mehr trainiert, dann kann er trotzdem signifikant schneller sein. Und das lässt sich auch auf den Bildungsbereich übertragen.
Und der zweite Ansatz?
Korte: Der geht davon aus, dass wir von Natur aus Wesen sind, die biologisch dafür angelegt sind, von anderen zu lernen. Deshalb sollte ich mich fragen: Was kann ich von anderen lernen, um möglichst viele meiner Ziele zu erreichen, die mich zu einem zufriedenen Menschen machen? Auch hier geht es darum, was ich bereit bin, zu investieren. Die Amerikaner nennen das „Grit“, was man mit Hartnäckigkeit übersetzen kann. Das ist einer der wichtigsten Faktoren bei all den Fähigkeiten, die wir versuchen zu entwickeln, ob beim Sport oder bei der Persönlichkeitsentwicklung, um langfristig unsere Ziele zu erreichen.
Schulen und Hochschulen folgen nur selten persönlichen Interessen und bilden auch keine Spezialisten aus. Stehen sie damit der Potentialentfaltung vielleicht sogar entgegen?
Korte: So pauschal würde ich das nicht sagen. Schule, Hochschule und Ausbildung sind gut, um einem Horizonte zu eröffnen, was an Bildungsthemen möglich ist. Sie geben ein gutes Rüstzeug, um die Welt begreifen zu können. Das ist die Stärke. Die Schwäche ist, dass die Schule nach der Grundschule vorgegebenen Curricula folgt. Gleiches gilt heute für Universitäten. Dabei werden die Individualität des Lernenden mit seinen individuellen Wünschen und seine Interessen zu wenig berücksichtigt. Wie sollen Schülerinnen und Schüler und Studierende ihre eigene Persönlichkeit finden, sich selbst entwickeln, eigene Interessen finden, wenn man die ganze Zeit negiert, dass sie eigene Interessen haben? Hier würde ich mir wünschen, dass es mehr Spielraum zwischen Themen gibt, die Schülern das Denkrüstzeug geben, um im Beruf Fuß zu fassen und solchen, die hinsichtlich der Persönlichkeitsentwicklung mehr Freiräume geben.
Vielen fällt erst im Berufsleben auf, dass sie sich für eine falsche Richtung entschieden haben. Was können diese Menschen tun, um dann noch ihr Potential zu entfalten?
Korte: Zum einen sind Fortbildungsprogramme heute gang und gäbe. Das einfachste ist, sich innerhalb der eigenen Branche weiterzuentwickeln, denn auch da gibt es verschiedene Berufsfelder. Hier muss man auch mal den Mut aufbringen, um sich querzubewerben. Auf der anderen Seite muss man sich auch nach der Motivation für den Wechsel fragen. Ist es nur der Chef, der einem nicht gefällt oder die Kollegen? Man muss aufpassen, dass man nicht von einem Problem ins nächste kommt. Manchmal hat man den falschen Beruf, aber manchmal gehört zur Persönlichkeitsentwicklung auch, dass man selbst über Kurse, Coaching und über Selbstanalysen versucht, mit Problemen anders umzugehen.
Kann man das Gehirn denn in höherem Alter überhaupt noch einmal entsprechend umprogrammieren?
Korte: Ja, Persönlichkeitsentwicklung ist ein wunderbarer Stimulus für das Gehirn, der dabei hilft, jung zu bleiben. Etwas komplett Neues zu lernen ist wie Gehirnjogging. Auf der anderen Seite ist es aber auch etwas, zu dem man sich massiv überreden muss. Man darf sich deshalb nicht wundern, wenn es Widerstände im Gehirn gibt. Unser Gehirn ist faul und möchte aus der Routine heraus all die Dinge machen, die wir jeden Tag machen, weil das weniger Energie kostet. Das Gehirn verbraucht schließlich 20 Prozent unserer Körperenergie, obwohl es nur zwei Prozent des Körpergewichts ausmacht. Und da versucht es natürlich mit möglichst wenig Energieaufwand die Probleme zu lösen. Alles, was wir neu lernen müssen, und das bringt ein neuer Job mit sich, müssen wir bewusst verarbeiten und das hat größere Widerstände, weil der Bereich des Gehirns im Stirnlappen, der das macht, weniger Rechenkapazität hat.
Ich muss also damit rechnen, dass es auch mal schwierig wird?
Korte: Wichtig zu verstehen ist, dass Persönlichkeitsentwicklung aufgrund der Neurobiologie unseres Gehirns metaphorisch gesprochen keine Pauschalreise ist, bei der man davon ausgeht, dass man den Flug, das Hotel und den Transfer bucht und sich dann um nichts mehr kümmern muss. Jeder, der privat in den Urlaub fährt und alles selbst organisiert, weiß, dass das nicht immer glattgeht und es Widerstände gibt. Wenn man den Job wechselt, wenn man sich weiterentwickelt, dann ist das auch so. Und das sollte man für sich schon einmal einplanen, damit man nicht frustriert ist, wenn es einem doch schwerfällt, den Hintern hochzukriegen, sich wieder neu zu bewerben und sich nochmal weiterzuentwickeln. Am besten überlege ich mir schon vorher, wie ich damit umgehe, denn schließlich habe ich ein langfristiges Ziel und bin überzeugt, dass das richtig ist.
Kann man denn sagen, dass sich der Weg immer lohnt?
Korte: Ja, am Ende belohnt uns unser Gehirn doppelt und dreifach. Denn ein Gehirn, das sich zumutet, nochmal Neues zu lernen und sich weiterzuentwickeln, das schafft neue Nervenzellen, neue neuronalen Verbindungen und schützt sich mit einer höheren Widerstandsfähigkeit im Alter gegen den kognitiven Abbau.
Das Interview führte Birte Schmidt
*Event-Tipp: XING und der AGV Region Braunschweig sind zurück aus der Sommerpause und bieten im Rahmen ihrer erfolgreichen Kooperation die nächste Hands-on Session an: Am Montag, den 27.09.2021 von 15.00 Uhr bis 16.00 Uhr blicken wir in unserem Livestream mit Ihnen und unseren zwei spannenden Talkgästen Petra Martin, Head of Center of Competence Leadership, Robert Bosch Elektronik GmbH und Prof. Dr. Martin Korte, Professor für zelluläre Neurobiologie an der TU Braunschweig auf folgendes Thema: Selbstverwirklichung und Potenzialentfaltung - sei auch im Job Du selbst. Im Anschluss findet ab 16 Uhr wieder ein Aftershow Networking statt.
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