Wie haben die vergangenen zwei Corona-Jahre auch den Bewerbungsprozess beeinflusst? Im Ablauf des Verfahrens selbst, aber auch bei Bewerbern und Unternehmen, habe sich der Fokus verschoben, erklärt Joachim Schultze* im Interview mit dem NWX Magazin. Besonders die sogenannten Soft Skills würden durch die Erfahrungen der Pandemie immer wichtiger bei der Entscheidung für oder gegen einen Bewerber werden. Trotzdem erinnert der renommierte Bewerbungscoach daran, auch die Hard Facts nicht zu vernachlässigen.
NWX-Magazin: Hatte die Pandemie einen Einfluss auf den Bewerbungsprozess? Welche Trends stellen Sie fest?
Joachim Schultze: Aktuell gibt es zwei Dinge, die mir auffallen. Zum einen: Das Bewerbungsverfahren hat sich verändert. Es gibt zunächst ein Kurzinterview, gefolgt von weiteren intensiveren Interviews über Videokonferenz. Erst dann kommt es zu einem Kontaktgespräch live – bei dem die Entscheidung in der Regel schon gefallen ist und es nur noch um den Vertrag geht. Diese Vielzahl von Gesprächsrunden habe ich so vor Corona nicht gekannt. Die Ressourcen Zeit und Umwelt werden dabei natürlich zeitgemäß geschont – und ich kann mir nicht vorstellen, dass das alles wieder so wird, wie früher und alle anreisen. Zum zweiten: Ich beobachte, dass mehr soziale Kompetenzen abgefragt werden und dass der Aspekt wichtiger wird, ob jemand ins Team passt. Ich nenne das „360-Grad-Recruiting“: Im zweiten oder dritten Gespräch sind neben Personaler und Führungsperson auch schon Kollegen aus der gleichen Ebene und auch potenzielle zukünftige Mitarbeiter des Bewerbers mit eingeladen.
Gehen wir noch einmal einen Schritt zurück – zur eigentlichen Bewerbung. Hat das Anschreiben noch eine Zukunft?
Schultze: Nein, aber es hat auch keine Vergangenheit. Ich habe im Laufe meines Arbeitslebens rund 1500 Mitarbeiter eingestellt, das Anschreiben habe ich in den seltensten Fällen gelesen. Dies deckt sich auch mit Ergebnissen von Befragungen unter Personalern. Bei meinen Mandanten im Coaching lese ich zuerst immer den Lebenslauf und frage sie dann: Und wo wollten Sie sagen, dass und worin Sie gut sind? Im Anschreiben ist das zu spät. Die Hard Facts und die Kernaussagen über bisherige Tätigkeiten müssen rein – und zwar in den Lebenslauf. Das ist das entscheidende Stück Papier. Nach sechs Sekunden fällt der Personaler die erste Entscheidung, in dieser Zeit muss sein Unterbewusstsein feststellen, dass wichtige Kriterien vorhanden sind – danach sucht er nur noch nach Bestätigung für sein positives Bauchgefühl.
Manchmal wählt auch der Algorithmus aus oder Künstliche Intelligenz – ist das dafür auch die richtige Strategie?
Schultze: Ja, das funktioniert genauso: Wie der Personaler nach einem Match sucht, macht das auch der Algorithmus. Deswegen müssen auch hier die Matching-Begriffe aus Aufgabenbeschreibung und Stellenprofil in den Lebenslauf.
Wie beurteilen Sie die Auswahl durch Algorithmen, KI, Apps und Co.?
Schultze: Grundsätzlich finde ich es immer schwierig, dass dann sofort die Rede davon ist, die „Fehlerquote Mensch“ auszuschalten. Jeder gute Personaler hat ja einen Instinkt, den man nicht unterschätzen darf. Es gibt viele Menschen, die nicht die Knaller-Biografien haben – aber oft Kompetenzen, die übertragbar sind. Da besteht dann die große Gefahr, dass sie durchs Raster fallen und nicht wahrgenommen werden. Das kann sich in Zeiten des Fachkräftemangels eigentlich kein Unternehmen leisten. Ich habe selbst oft Langzeitarbeitslose eingestellt, die sehr engagiert, extrem loyal und dankbar waren, noch einmal eine Chance zu bekommen: Ein Beispiel aus meiner eigenen Praxis: Ein Mitarbeiter wurde nach fünf Jahren Arbeitslosigkeit eingestellt und war nach zwei Jahren Führungskraft. Da müssen Unternehmen mehr Mut zeigen und auch Bewerbern, die nicht alles mitbringen, eine Chance geben. Sie sollten nicht nur als Konsumenten, sondern auch als Gestalter des Arbeitsmarktes auftreten.
Was beobachten Sie bei Ihren Klienten: Welche Art von Job suchen die Menschen nach Corona? Was ist ihnen wichtig?
Schultze: Viele wünschen sich eine interessante Aufgabe, so dass der Job erfüllender Teil des Tagesablaufs wird. Manche wollen einfach überhaupt wieder einen Job haben. Homeoffice ist wichtig – obwohl ich strikt davon abrate, das bereits in der Bewerbung zu formulieren, denn erst wenn das Unternehmen „Ja“ ruft, kann ich einen Preis nennen. Ich sehe aber auch die Tendenz, sich selbstständig zu machen: Das Gefühl, dass ich einen Job habe und den sicher bis 67 behalte, hat sich in den letzten beiden Jahren zunehmend aufgelöst. Da sagt man sich, die fehlende Sicherheit kann ich auch in der Selbstständigkeit haben und machen, was ich wirklich will.
Wie findet man denn heraus, was man wirklich will?
Schultze: Ich sage meinen Klienten: Jetzt stellen Sie sich mal vor, Sie sind 15 Jahre alt und haben gerade Ihren Hauptschulabschluss gemacht, Ihnen stehen alle Wege offen – was würden Sie am liebsten machen? Das hilft manchmal schon. Auf jeden Fall ist die Zeit, sich darüber Gedanken zu machen, gut investiert. Sie müssen als Bewerber wissen, was Sie wirklich wollen: Wenn Sie nur streuen, wird das nix.
Das Interview führte Maria Zeitler
*Unser Gesprächspartner: Joachim Schultze ist Gründer und Inhaber der Bewerbermanufaktur und bietet Bewerbertrainings und Karriereberatung für Fach- und Führungskräfte, aber auch für Menschen in Arbeitslosigkeit mit einer Förderung durch die Agentur für Arbeit bundesweit an. Ebenso berät er Unternehmen zu personalwirtschaftlichen Aspekten und coacht Mitarbeiter im Rahmen eines Outplacement. Der Diplom-Kaufmann war vor Gründung der Bewerbermanufaktur über 20 Jahre als Führungskraft, Vertriebs- und Personalleiter in namhaften Unternehmen und Konzernen aus verschiedenen Branchen auf Geschäftsleitungsebene tätig.