Wenn es um den Wandel der Arbeitswelt geht, ist neben der "Homeoffice vs. Büro"-Frage die Vier-Tage-Woche das derzeit wohl am meisten diskutierte Thema. Befürworter sprechen von besserer Lebensqualität für Arbeitnehmende, Kritiker befürchten Produktivitätsverluste. Nun ist der Startschuss für 45 deutsche Unternehmen und Organisationen gefallen, die im Rahmen eines Experiments ein halbes Jahr lang die Vier-Tage-Woche ausprobieren wollen.
Der IT-Dienstleister Nacura aus Paderborn ist ebenfalls dabei. Markus Nölker aus der Geschäftsführung nennt gegenüber der Nachrichtenagentur dpa zwei Gründe für die Teilnahme seines Unternehmens: zum einen die Work-Life-Balance und zum anderen die Mitarbeiterbindung und -akquise. Von den 23 Mitarbeitern blieben nur zwei bei der bisherigen Arbeitszeit. Die Entscheidung konnte jeder Mitarbeiter freiwillig treffen.
Nölker berichtet von Bedenken, ob die Arbeit in vier Tagen erledigt werden kann und ob zusätzliche Kosten durch freie Freitage entstehen. In einer Arbeitsgruppe wurden verschiedene Ideen zur Umsetzung diskutiert und alle Mitarbeiter hatten ausreichend Zeit zur Überlegung. Schließlich hat sich das Team in einer anonymen Abstimmung eindeutig für den Versuch ausgesprochen. "Die Mitarbeiter waren interessiert, es zumindest einmal auszuprobieren", sagt Nölker.
Das Experiment testet das Modell "100-80-100": 100 Prozent Leistung in 80 Prozent der Zeit für 100 Prozent Lohn. Es wurde in Deutschland von der Unternehmensberatung Intraprenör initiiert, die wiederum mit der Organisation "4 Day Week Global" zusammenarbeitet. Die NGO hat das Projekt bereits in anderen Ländern ähnlich umgesetzt: In Großbritannien nahmen 61 Unternehmen mit insgesamt 2.900 Beschäftigten an einem Pilotprojekt teil. Davon gaben 56 an, die Vier-Tage-Woche auch nach dem Ende der Testphase beibehalten zu wollen. Im Rahmen des Projekts verringerten sich die Krankheitstage im Schnitt um rund zwei Drittel und die Anzahl der gekündigten Angestellten ging um 57 Prozent zurück. Die Forscher aus Boston und Cambridge stellten zudem eine Umsatzsteigerung von rund 1,4 Prozent fest. In einer weiteren internationalen Studie, bei der eine Vier-Tage-Woche mit 32 Stunden Wochenarbeitszeit in 33 Unternehmen untersucht wurde, stieg die Produktivität der Beschäftigten und auch die persönliche Zufriedenheit vieler Mitarbeiter.
Modelle zur Arbeitszeitverkürzung sind in Deutschland vor allem auf Arbeitgeberseite umstritten. Unternehmen argumentieren, dass sie aufgrund des Fachkräftemangels kein neues Personal finden, um die fehlende Arbeitszeit auszugleichen. Der Direktor des arbeitgebernahen Instituts der deutschen Wirtschaft (IW), Michael Hüther, forderte angesichts der aktuellen wirtschaftlichen Lage sogar längere Arbeitszeiten nach Schweizer Vorbild.
Marcel Fratzscher vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW), weist darauf hin, dass die in den Studien untersuchten Unternehmen meist aus dem Dienstleistungssektor stammen, wo Änderungen der Arbeitszeit leichter möglich sind. Fratzscher betont, dass eine Übertragung der Ergebnisse auf alle Branchen, Unternehmen und Länder nicht seriös wäre. Er empfiehlt jedoch, dass Politik und Wirtschaft sich für mehr Flexibilität und neue Modelle des Arbeitslebens öffnen sollten.
Die deutsche Ausgabe wird wissenschaftlich von der Universität Münster begleitet. In monatlichen Austauschrunden und Chaträumen können die teilnehmenden Unternehmen Erfahrungen austauschen und ihr Modell optimieren. Die am Projekt beteiligten Organisationen und Unternehmen haben ihren Sitz im gesamten Bundesgebiet. Mehr als die Hälfte der Unternehmen beschäftigt zwischen 10 und 49 Mitarbeiter. Am stärksten ist die IT- und Technologiebranche vertreten (14 Prozent). Aber auch Handwerk und Industrie (jeweils 6 Prozent) sind in dem Projekt repräsentiert. Diese Branchen waren in Studien aus anderen Ländern häufig unterrepräsentiert.
Bei Nacura wurden für die Viertagewoche vier Teams gebildet, die unterschiedlich arbeiten. Pro Woche sind drei Teams von Montag bis Donnerstag im Dienst und ein Team von Dienstag bis Freitag. Als IT-Dienstleister sei es wichtig, die Kunden an jedem Werktag betreuen zu können. Die Teams wechseln sich ab, wer freitags arbeiten muss. Durch das rollierende System gibt es für ein Team sogar mal ein viertägiges Wochenende.
Markus Nölker geht davon aus, dass sich die Vier-Tage-Woche im Unternehmen durchsetzen wird, ähnlich wie beim Homeoffice. Im April 2019 wurde mobiles Arbeiten eingeführt, jedoch haben nur wenige davon Gebrauch gemacht. Durch die Corona-Pandemie mussten die Mitarbeiter ins Homeoffice wechseln und nun möchten viele von ihnen nicht mehr ins Büro zurückkehren.
TH / red