Wo wollen wir in Zukunft arbeiten? Die hundertprozentige Rückkehr in die alten Bürostrukturen ist nach den Homeoffice-Erfahrungen der vergangenen Jahre für viele Menschen ausgeschlossen. Aber zu viel Abwesenheit von der Firma freut nicht alle Arbeitgeber. Wo sind die Kompromisse zwischen den Interessen? Wie können hybride Arbeitsplatz-Lösungen funktionieren? Anlässlich seiner Keynote auf der NWX Session bei der Orgatec in Köln sprach das NWX Magazin mit Dr. Stefan Carsten*, einem der führenden Mobilitätsexperten Deutschlands, über seine Vision moderner Arbeitsorte, die nicht mehr in den leblosen Arealen von Gewerbegebieten beheimatet sein sollten. Und darüber, warum Pflanzen auf dem eigenen Büroschreibtisch immer noch wichtig sind.
NWX Magazin: Die zunehmende Mobilität in der Arbeitswelt wurde ja schon vor 2020 viel diskutiert, allerdings eher noch in Fachkreisen. Und dann ist Corona gekommen und hat auf einen Schlag innerhalb eines halben Jahres sehr, sehr viel verändert. Wie steht es um dieses Thema aus deiner Sicht im Moment?
Stefan Carsten: Es gibt ein neues Verständnis von Mobilität, das eher auf Unabhängigkeit und Flexibilität der Verkehrsmittel ausgelegt ist. Das bedeutet, dass immer mehr Menschen - man muss fairerweise sagen: vor allem immer mehr junge Menschen - nicht mehr den Dienstwagen vor die Tür gestellt bekommen möchten, nicht mehr mit dem Auto lange Strecken pendeln, sondern heute mal mit dem Fahrrad zur Arbeit fahren, morgen mit dem ÖPNV, übermorgen auch gerne mit dem Auto, jeden Tag was anderes. Mobilität und Flexibilität sind für diese Gruppe ganz selbstverständlich. Und für immer mehr Unternehmen stellt sich die Frage: Wie werden denn die Fuhrparks ausgestattet sein? Wie ist unsere Dienstwagen-Strategie? Wie findet betriebliche Mobilität bei uns statt?
Gehören Remote- und Homeoffice-Lösungen in diesem Zusammenhang auch in den Begriff Mobilität der Arbeit, so wie du ihn definieren würdest?
Stefan Carsten: Hundertprozentig. Viele Menschen entscheiden sich, im Homeoffice zu arbeiten, weil dieses Pendeln, diese Staus, Abhängigkeiten und Stress nicht mehr zu ihrem Alltag gehören sollen. Dass sehr viele Arbeitnehmer fast jeden Tag zu Hause arbeiten wollen, liegt aber nicht im Interesse der Firmen. Man wird sich aufeinander zubewegen und Kompromisse finden müssen: vielleicht zwei, drei Homeoffice-Tage und zwei Tage im Büro. Aber die großen Fragen, die darüber liegen, sind: Was bedeutet Mobilität für jeden Einzelnen persönlich? Und wie gestalten wir diese neue Mobilität? Das wird für Mitarbeiter, aber auch für Unternehmen immer wichtiger.
Bei der derzeitigen Situation auf dem Arbeitsmarkt liegt die Entscheidungshoheit darüber vor allem bei den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die sich beinahe den Job danach aussuchen können.
Stefan Carsten: Im Moment schon. Aber schon in den kommenden Jahren werden die Unternehmen durch politische Vorgaben und Gesetze immer stärker gezwungen sein, ihre Nachhaltigkeit und ihre soziale Verantwortung offen zu legen. Und dazu gehört auch, zu zeigen, wie ihre Mitarbeiter zur Arbeit gekommen sind, ob sie viel pendeln müssen, wie hoch der CO2-Fußabdruck von Unternehmen in ihren betrieblichen Abläufen ist oder wie klimafreundlich Lieferketten organisiert sind. Denn all diese Informationen, die in den Nachhaltigkeitsberichten aufgenommen werden müssen, entscheiden in Zukunft sehr stark darüber, wie die wirtschaftliche Bewertung des Unternehmens ausfallen wird: etwa bei der Zuteilung von Bankkrediten oder Engagements von Investoren. Also haben Unternehmen schon sehr bald ein ureigenstes Interesse daran, neue Mobilitäts- und Arbeitsmodelle zu unterstützen.
Dazu müssen auch beide Seiten, Arbeitgeber wie Arbeitnehmer, noch einen anderen Widerspruch auflösen: Viele Menschen wollen zwar gerne im Homeoffice bleiben, aber gleichzeitig ist da doch auch die Sehnsucht, regelmäßig ins Büro zu kommen wegen des Gemeinschaftsgefühls und des Austausches mit den Kolleginnen und Kollegen. Wie könnten Modelle aussehen, die beides berücksichtigen?
Stefan Carsten: Ich glaube, dass alternative Standorte in Zukunft eine enorm wichtige Rolle spielen werden. So wäre es ja beispielsweise eine Lösung, dass man dort, wo es möglich ist, seinen Unternehmenssitz im klassischen Gewerbegebiet verlässt und stattdessen wieder mehr in die Städte zieht. Wo alle Mitarbeiter die urbanen Funktionen nutzen können, die Menschen sich entweder im Unternehmen treffen können oder auch um die Ecke in der Stadt. Wo die Firma eben ein Ort ist, mit viel mehr flexiblen Arbeits- und Kommunikationsmöglichkeiten als in diesen reinen Bürokomplexen am Stadtrand.
Könnte man diese Strategie noch dezentraler gestalten, etwa durch verschiedene Standorte, die in einer Großstadt verteilt sind? So dass die Wege der Menschen noch kürzer werden?
Stefan Carsten: Das ist schon sehr weit gegriffen, aber interessant, sicher: Ich glaube, dass Unternehmen in Zukunft gar nichts anderes übrig bleibt, als sehr flexibel zu sein und den Menschen einfach andere Orte zur Verfügung zu stellen, als das in der Vergangenheit der Fall war. Unternehmen, wenn sie die Stadt als Arbeitsort auserwählt haben, müssen schauen, wie sie sich in der Stadt räumlich organisieren. Und es spricht vieles dafür, dass Unternehmen sich tatsächlich auch deutlich kleinteiliger aufstellen müssen.
Den klassischen Industrieunternehmen eröffnen sich aber nicht so viele Möglichkeiten, die können nicht ohne Weiteres nach Eppendorf oder nach Kreuzberg umziehen.
Stefan Carsten: Nein, natürlich nicht. Die werden versuchen, ihre Standorte auch eher als modernen Campus auszubauen, vielleicht das Gewerbegebiet für sich attraktiver zu gestalten, vielleicht auch an mehr Grünflächen denken und das alles solchermaßen umgestalten. Diese Unternehmen werden auch ihre Mobilitätskonzepte für sich und ihre Mitarbeiter nochmals nachhaltiger gestalten müssen. Und auch ihre Raum- und Freiflächenkonzepte überdenken, schon allein unter dem Aspekt des Klimawandels: Wie und wo können Mitarbeiter im Sommer bei Außentemperaturen von 40 Grad arbeitsfähig bleiben?
Welche Möglichkeiten liegen denn in den virtuellen Arbeitsorten, die derzeit so vehement propagiert werden, wie etwa das Metaverse?
Stefan Carsten: Ganz ehrlich, alles, was wir bisher dazu demonstriert bekommen haben, ist doch höchstens drittklassig. Dann mache ich doch lieber eine der leidigen Videokonferenzen, als mich in solche komischen virtuellen Räume zu begeben. Klar, Virtual Reality kann in ausgewählten Bereichen, wie der Forschung und ganz speziellen Produktionsprozessen, tatsächlich helfen, Abläufe einfacher und effizienter zu gestalten, Dinge auszuprobieren. Also Anwendungen, die wir bereits seit vielen Jahren kennen. Auf diesen Felder wird die Technik auch in Zukunft noch stärker zum Einsatz kommen. Aber jetzt überall künstliche Orte zu kreieren, wo ich mich dann treffen und dann möglicherweise meine Meetings abhalten kann, das halte ich für nicht zukunftsfähig.
Dann sprechen wir doch noch einmal über reale Orte. Du bist in der kommenden Woche Speaker auf der NWX Session während der Orgatec in Köln. Einer Messe, die sich auch mit der Gestaltung von Arbeitsräumen der Zukunft beschäftigt. Wenn Du jetzt auf dem Reißbrett so einen futuristischen Arbeitsort für ein Unternehmen, sagen wir mal einen typischen Mittelständler, skizzieren könntest, wie würde der aussehen?
Stefan Carsten: Also, es wäre auf jeden Fall ein Ort, der zu viel Offenheit und Bewegung einlädt ...
...zur Binnen-Mobilität also.
Stefan Carsten: Ja, so kann man das sagen. Wir können es uns nicht mehr leisten, acht Stunden lang zu sitzen und Rückenschmerzen zu bekommen. Es wäre ein Ort mit vielen Funktionen, sowohl Bücherei, Kantine, Kommunikationspunkt und auch dem stillen Kämmerlein, wo ich tatsächlich mal in Ruhe schreiben kann. Und der Austausch fördert, immer wieder, zufällig oder geplant, an jeder Ecke. Denn dieser Austausch ist die Quelle von Kreativität und liefert das Gemeinschaftsgefühl, das wir alle brauchen. Und übrigens: So ein Konzept schließt auch einen individuellen festen Platz für jeden nicht aus, im Gegenteil. Man braucht einen Schreibtisch, auf den man seine Bilder und Pflanzen stellen kann - selbst wenn man nur zwei Tage in der Woche da ist.
Interview: Ralf Klassen
*Unser Gesprächspartner: Dr. Stefan Carsten ist Experte für die Zukunft der Mobilität, Autor und Speaker. In seinem Mobility Report und in seinen Vorträgen analysiert er die wichtigsten Trends und Entwicklungen der Mobilität für Wirtschaft und Gesellschaft. Seit 2020 ist im Beirat des Reallabors Radbahn in Berlin und seit 2021 Mitglied des Expertenbeirats des Bundesverkehrsministeriums zur ÖPNV-Strategie 2030+. Mehr Infos unter: stefancarsten.net