Endorsement

„Nein, wir müssen uns nicht alle selbstverwirklichen“

Bernd Slaghuis über Potenzialentfaltung

10. September 2021

Muss denn ein Job wirklich (fast) alles im Leben bedeuten? Wer ständig einer mysteriösen ‚Berufung‘ hinterher hechelt, verpasst frustriert das Hier und Jetzt. Das sagt Karriere-Coach Bernd Slaghuis*. Im Interview mit dem NWX Magazin erklärt er, wo er den Unterschied zwischen Berufung und Selbstverwirklichung sieht, wie man den Job findet, in dem die eigenen Stärken tatsächlich wirksam werden – und wie Corona die Suche nach dem Sinn in der Arbeit noch verstärkt hat.

NWX-Magazin: Was bedeutet Selbstverwirklichung für Dich?

Bernd: Ich persönlich kann mit dem Begriff der Berufung nicht viel anfangen, die draußen vielleicht irgendwo auf mich wartet. Das ist mir zu hoch und irgendwie endlich. Selbstverwirklichung heißt für mich, aus mir selbst heraus in meinem Beruf wirksam sein zu können. Für mich ist es das erfüllende Gefühl, am Ende des Tages Energie aus meiner Arbeit zu ziehen, das hat viel mit Leichtigkeit und Freude zu tun. Im Coaching sprechen wir häufig über diese Begriffe. Viele Arbeitnehmer verbinden mit dem Wert ‚Selbstverwirklichung‘, sich bestmöglich mit ihren persönlichen Stärken in einen Job einzubringen. Grundlage dafür ist natürlich, dass wir uns unserer Stärken auch bewusst sind. Und dann muss man sich gezielt auf die Suche machen – nicht nach dem für alle Zeiten perfekten Job, sondern nach einer Aufgabe, in der ich meine Stärken ausleben kann sowie nach einem Arbeitsumfeld, in dem ich selbst als Mensch auch sein darf, wie ich bin.

Man muss sich also nicht selbständig machen oder sein Hobby zum Beruf machen, um sich zu verwirklichen?

Bernd: Im Gegenteil: Ich finde es sogar sehr gefährlich, einfach das Hobby zum Beruf zu machen. Ich backe zum Beispiel ab und zu sehr gerne, aber die Vorstellung, jeden Tag Kuchen produzieren zu müssen, setzt mich schon unter Druck, wenn ich nur daran denke. So ein Hobby ist ja auch als Ausgleich zum Beruf wichtig. Trotzdem ist natürlich richtig: Selbstverwirklichung hat sehr viel mit Leidenschaft zu tun. Ich empfehle allen, sich einmal bewusst und gezielt zu überlegen, für welches Thema oder welche Produkte sie sich begeistern können und wofür das Herz schlägt, als das Hobby zum Beruf zu machen, weil es so naheliegend scheint. Einer meiner Klienten sagte neulich, dass ihn das Thema E-Mobilität extrem interessiert. Dann kann er sich umsehen, welche Arbeitgeber es in der Branche gibt und welche passenden Stellen dort ausgeschrieben sind. Es kann schon einen großen Unterschied in Sachen Leidenschaft machen, wenn beispielsweise jemand bisher als Controller bei einer Bank angestellt war, sich mit der Branche jedoch nicht mehr identifizieren kann, und er ins Controlling eines E-Bike-Herstellers wechselt.

Kann man nur in einem Job zufrieden sein, in dem man sich selbst verwirklichen kann?

Bernd: Natürlich müssen wir uns nicht alle im Beruf selbstverwirklichen. Manchen Menschen ist Selbstverwirklichung nicht wichtig, sie legen Wert auf andere Dinge im Beruf, wie etwa ein gutes Team, Anerkennung, Einfluss oder das Geld, das sie verdienen. Jede und jeder sollte sich selbst überlegen, was ihm oder ihr im Job wichtig ist. Wer mit Selbstverwirklichung nichts anfangen kann: völlig ok. Wenn sie mir aber wichtig ist, sollte ich dieses Bedürfnis ernst nehmen und versuchen, einen Job zu finden, in dem mein Gefühl, mich selbst zu verwirklichen, einigermaßen erfüllt ist – ansonsten raubt jeder Tag auf Dauer viel Kraft. Selbstverwirklichung kann aber nicht unter Druck funktionieren, sondern braucht Leichtigkeit, Freiheit im Kopf und Neugier. Druck ist der Tod jeder Selbstverwirklichung.

A propos Druck: Wie hat sich das Klima, auch bei Deinen Klienten, seit Beginn der Corona-Pandemie verändert? Steht nun nicht viel mehr die Sicherheit im Fokus, anstatt der Selbstverwirklichung?

Bernd: Nein, ich erlebe sehr oft die Frage nach mehr Sinn in der Arbeit, Sicherheit spielt eher eine untergeordnete Rolle. Für viele ist Selbstverwirklichung während der Pandemie wichtiger geworden. Im Homeoffice gab es einfach mal Distanz zum Job und viele haben hinterfragt: Was habe ich da eigentlich gemacht in den vergangenen Jahren, in diesem Hamsterrad? Der erzwungene Abstand hat viele zum Nachdenken gebracht. Corona war für uns alle ein Einschnitt ins Leben, aber viele sind auch persönlich gestärkt aus der Krise hervorgegangen, resilienter geworden. Sie spüren jetzt stärker den Drang, ihr Leben auch aktiv selbst zu gestalten. Das merke ich an der stark gestiegenen Nachfrage für Coachings zur beruflichen Neuorientierung seit Mitte letzten Jahres.

Was stört die Menschen, die zu Dir kommen, an ihren aktuellen Jobs?

Bernd: Vielen fehlt die Wertschätzung vom Chef oder von den Kollegen – umso mehr seit vielen Monaten im Homeoffice. Oft höre ich: ‚Der Chef entwickelt mich nicht weiter, die Aufgaben unterfordern mich, ich langweile mich und komme nicht weiter.‘ Tatsächlich geht es in den Karriere-Coachings häufiger um Langeweile und Unterforderung als um zu viel Arbeit und Burnout: Viele Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter haben echte Lust auf Neues, wollen etwas bewegen und mitgestalten, werden aber systematisch klein gehalten. Oft ist es aber auch der Sinn, den sie vermissen: Weil sie Unterlagen für die Schublade produzieren, ihnen durch zu viel Routine die Leidenschaft flöten gegangen ist oder die Produkte ihres Arbeitgebers so unsexy sind, dass sie sich jeden Tag aufs Neue fragen, warum sie morgens aufstehen.

Wie kommen Menschen dann wieder in einen Job, in dem sie sich stärker selbst einbringen können?

Bernd: Auf jeden Fall nicht, indem man solchen oder ähnlichen Guru-Sprüchen glaubt: ‚Wenn du tust, was du liebst, wirst du nie wieder arbeiten‘. Denn es gibt für mich nicht diese eine Selbstverwirklichung, die für das ganze Leben gilt. Ich rate dazu, es realistisch und pragmatisch anzugehen, nach einem Karriere-Lebensphasen-Modell: Selbstverwirklichung kann nach dem Studium bis Mitte 30 etwas ganz anderes sein als mit Mitte 40 oder 50. Kinder, private Krisen oder auch Corona können unsere Werte und das, was wir von uns selbst einbringen wollen und können, verändern. Es gilt sich also zu fragen: Was ist mir heute und in den nächsten Jahren wichtig im Beruf, was ist für mich ein gutes Arbeitsumfeld, für welche Themen, Branchen oder Produkte kann ich aktuell Leidenschaft entwickeln und was sind es für Aufgaben und Positionen, in denen ich meine Stärken und bisherigen Erfahrungen in den nächsten Jahren gut einbringen kann? Als Antwort hierauf gibt es eben nicht den einen, perfekten Job. Ich finde es ganz wichtig, diesen Druck der einzig wahren Berufung rauszunehmen. Vielleicht sind es am Ende 20 Stellenausschreibungen, in verschiedenen Branchen mit verschiedenen Jobtiteln, die zu mehr persönlicher Zufriedenheit und dem Gefühl von Selbstverwirklichung im Beruf führen.

Den Druck rausnehmen – haben wir verlernt, auch mal zufrieden und gelassen zu sein?

Bernd: Ja, wir brauchen auf jeden Fall ein neues Maß für Zufriedenheit im Beruf. Es gibt zu viele Menschen, die ihr Berufsleben lang frustriert nach ihrer ‚Berufung‘ suchen, ständig etwas Unbestimmtem hinterherhecheln und dabei das Hier und Jetzt völlig verpassen. Unter dem ständigen Eindruck, noch nicht angekommen zu sein, sehen sie nicht mehr, was gerade auch alles gut läuft. Das Gefühl, noch nicht angekommen zu sein, ist hilfreich für die eigene Entwicklung, doch die Entwertung alles Bisherigen, weil es eben noch nicht ‚die Berufung‘ war, die ist schädlich. Wer mit Leichtigkeit, Zufriedenheit und echter Neugierde auf die Zukunft blickt, kann als Chefin oder Chef des eigenen Lebens viele Möglichkeiten entdecken, selbst der Selbstverwirklichung näher zu kommen.   

Das Interview führte Maria Zeitler

*Zur Person: Karriere- und Business-Coach Dr. Bernd Slaghuis (www.bernd-slaghuis.de) ist Experte für berufliche Neuorientierung, Bewerbung und gesunde Führung. Sein Blog „Perspektivwechsel“ zählt zu einem der meistgelesenen Karriere-Blogs in Deutschland. Er ist XING Branchen-Insider, Kolumnist und Gastautor für diverse Karriere- und Management-Magazine. Slaghuis hält deutschlandweit Vorträge, moderiert Workshops und gibt Seminare.

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