Der schon seit Jahren andauernde Fachkräftemangel in Deutschland wird weiter zunehmen. Besonders mittlere und größere Unternehmen stehen im neuen Jahr vor einer gewaltigen Herausforderung. Beim Recruiting von Talenten werden schneller Prozesse und die passende Unternehmenskultur immer wichtiger. Das ist das Ergebnis einer Umfrage des Meinungsforschungsinstitut forsa im Auftrag der Recruiting-Experten von onlyfy by XING.
Insgesamt hatte forsa 500 Personalleiter in Unternehmen ab 50 Mitarbeitern befragt. Und die zeichnen in der Mehrzahl ein überaus negatives Bild der derzeitigen Lage am Stellenmarkt. Zwei von drei Personalentscheidern gehen davon aus, dass sich die Situation 2023 noch verschärfen wird. Besonders ausgeprägt ist die Sorge bei Unternehmen mit über 250 Beschäftigten – dort denken dies drei von vier Personaler. Schon heute haben über 60 Prozent der Personalentscheider die Erfahrung gemacht, dass ihnen Talente während des Bewerbungsprozesses abspringen.
Am wenigsten zuversichtlich blicken dabei Personalleiter aus dem Gesundheits- und Sozialwesen in die Zukunft. In diesem Bereich sind 71 Prozent der Befragten der Meinung, dass sich der Fachkräftemangel im kommenden Jahr weiter verschärfen wird, weitere 23 Prozent davon ausgehen, dass die Situation so kritisch bleibt, wie sie zurzeit schon ist. Auch in anderen Branchen bewerten die verantwortlichen Personalerinnen und Personaler die Aussichten eher trüb: 65 Prozent der Befragten in der Industrie und 68 Prozent der Befragten im Dienstleistungsbereich glauben, dass es im kommenden Jahr schwieriger wird, neue Mitarbeitende zu finden. Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung geht derzeit von 1,82 Millionen offenen Stellen aus (Stand: IAB November 2022).
„Die Machtverhältnisse am Arbeitsmarkt haben sich verschoben. Unternehmen haben nicht mehr die Trümpfe in der Hand. Heute bewerben sich Unternehmen bei Talenten, nicht Talente um Jobs“, sagt Frank Hassler, Vorstandsmitglied der NEW WORK SE, verantwortlich für die Geschäftsfelder Recruiting und Employer Branding. „Unternehmen haben hier wenig Spielraum für Fehler und müssen sehr genau schauen, wie sie ihr Recruiting zeitgemäß und strategisch aufstellen.“, so Hassler weiter.
Viele Jobsuchende springen während des Bewerbungsprozesses ab
Wie dringend ein Umdenken nötig ist, zeigt auch die Tatsache, dass fast jeder Personalleiter (90 %) in diesem Jahr die Erfahrung gemacht hat, dass ihm Bewerbende während des laufenden Bewerbungsprozesses abgesagt haben. So bestätigt jeder dritte HR-Verantwortliche (37 %), dass in den letzten zwölf Monaten gelegentlich Kandidatinnen und Kandidaten abgesagt hätten und 24 Prozent der Befragten geben an, dass dies sogar häufig bis sehr häufig vorgekommen seien. Die Gründe für die Absagen sind dabei vielfältig und reichen von einem besseren Angebot der Konkurrenz, über fehlende Flexibilität der Arbeitgeber (Stichwort Arbeitsmodelle, Home-Office u.a.) bis zu prozessualen Gründen, wie einem als zu aufwändig empfundenen Bewerbungsprozess. Nicht von Vorteil ist es dabei sicherlich, dass HRler einen Großteil ihrer Zeit auf administrative Aufgaben wie Gehaltsabrechnungen (61 %) und die Organisation und Koordination von Bewerbungsprozessen verwenden müssen (67 %). „Viele Personalabteilungen sind heute durch administrative Zeitfresser überlastet. Unternehmen sollten hier intelligente Wege gehen und Lösungen finden, wie sie ihre Führungskräfte besser entlasten können“, so Frank Hassler.
Zukunftstrend New Hiring: Retention Management, Active Sourcing und Talent Pooling werden 2023 wichtiger
Wenn auf dem Arbeitsmarkt zunehmend die Talente fehlen, werden die Maßnahmen zur Bindung bestehender Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter immer wichtiger. Daher sind zwei von drei Personalverantwortlichen in Deutschland der Meinung, dass Mitarbeiterbindungsmaßnahmen im kommenden Jahr an Bedeutung gewinnen werden (65 %). Auf der Liste der Tätigkeiten, für die sie gerne mehr Zeit hätten, steht das so genannte Retention Management mit 53 Prozent ebenfalls ganz oben.
Das frühzeitige Identifizieren und proaktive Ansprechen möglicher Bewerberinnen und Bewerber wird 2023 ebenfalls relevanter: Zwei Drittel der HR-Verantwortlichen sind der Meinung, dass Active Sourcing wichtiger wird (64 %). Das gilt insbesondere für Personalverantwortliche in Unternehmen ab 250 Beschäftigten (74 %). Zudem sehen sie eine Recruiting-Chance im so genannten Talent Pooling, also dem frühzeitigen Identifizieren potenzieller Kandidaten, um sie später bei Bedarf anzusprechen (60 %). Aber auch klassische HR-Maßnahmen wie Coaching und Weiterbildung von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern (63 %) sowie Führungskräften (54 %) werden im kommenden Jahr wichtiger, ebenso wie Employer-Branding-Maßnahmen (49 %).
Zudem könnten im kommenden Jahr neue Recruitingkanäle eine Chance bekommen: 56 Prozent der Personalleiter sind daran interessiert, den Bewerbungsprozess zu vereinfachen und zu beschleunigen – beispielweise durch Bewerbungen via WhatsApp oder anderer Social-Media Kanäle. In Unternehmen ab 250 Beschäftigten haben fast drei Viertel der Befragten Interesse daran (72 %).
Und ein Drittel der Befragten sagt, dass „Data Analytics und Reporting“ in der HR-Welt im kommenden Jahr weiter an Bedeutung gewinnt. „HR-Tech ist eines der zentralen Trendthemen in Unternehmen. In Zeiten des Fachkräftemangels ist der Einsatz intelligenter Technologien unabdingbar, um eine Chance auf dem Bewerbermarkt zu haben“, so Frank Hassler. Denn unglücklicherweise schätzt jeder zweite Personalverantwortliche gleichzeitig, dass die Administration und Koordination von Bewerbungsprozessen 2023 als Aufgabe weiter an Bedeutung gewinnt (50 %).
Die Unternehmenskultur macht den Unterschied
Auf die Frage, was in ihrem Unternehmen Beschäftigte dazu bewegt, dauerhaft zu bleiben, antworten HR-Verantwortliche, dass es sogenannte weiche Faktoren seien: Neben Arbeitsatmosphäre und Unternehmenskultur werden hier vor allem Job-Zufriedenheit (80 %) und Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben (71 %) als ausschlaggebend gesehen. Die Höhe des Gehalts sehen nur 54 Prozent als einen der Haupt-Bleibegründe an. Trotzdem wird in Personalgesprächen meist genau darüber geredet: mit 75 Prozent ist die Höhe des Gehalts Top-Thema, gefolgt von Gesprächen über Arbeitsaufgaben und beruflichen Perspektiven (73 %) sowie Jobzufriedenheit (70 %). „Personaler müssen die Zeit und die Ressourcen haben, sich noch mehr mit Themen zu beschäftigen, die Menschen am Herzen liegen, statt vorwiegend über Geld zu sprechen. Nur so entsteht echte Mitarbeiterbindung, die Beschäftigte zum Bleiben motiviert“, so Frank Hassler.
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