Die „Great Resignation“, die Kündigungswelle in den USA und Großbritannien während der Corona-Pandemie, wird nach Meinung von Expert*innen auch hierzulande bald den Arbeitsmarkt treffen. Dabei geht es nicht nur um die Suche nach krisensicheren Jobs. Die Erfahrungen in der Covid-Krise haben viele Menschen dazu veranlasst, ganz neue Ansprüche an ihre Arbeit und ihren Arbeitgeber zu stellen. Zusammen mit dem bereits vorherrschenden Fachkräftemangel bringt das für Unternehmen große Herausforderungen.
Zwanzig Millionen Kündigungen allein in den USA im zweiten Halbjahr 2021. Mehrere Millionen in Großbritannien. Sicher, darunter sind einige Sabbaticals, ein paar mehr Abschiede in den Vorruhestand oder die zeitweilige „freiwillige“ Arbeitslosigkeit vieler Frauen (und bedeutend weniger Männer), weil die Kinderbetreuungsaufgaben in der Pandemie eine zu große Herausforderung waren und großenteils immer noch sind. Aber das ist nur eine Seite der Medaille.
Denn die meisten dieser Arbeitnehmer*innen scheiden weder dauerhaft noch zeitweise aus dem Berufsleben aus: Millionen von Menschen weltweit krempeln gerade ihre Karriere von Grund auf um. Auch in Deutschland ist nach aktuellen Studien die Zahl derjenigen, die ihren Arbeitgeber verlassen würden, so hoch wie noch nie in den vergangenen zehn Jahren. Besonders Frauen und Mitarbeitende aus der Dienstleistungsbranche zeigen sich wechselbereit.
Viele davon suchen auch hierzulande Jobs in Branchen, die nicht so stark von Corona betroffen sind, oder Berufe, die höhere Löhne bieten. Und immer mehr wechseln zu Arbeitgebern und Stellen, die besser mit ihren Werten und persönlichen Zielen übereinstimmen. Für Petra von Strombeck, CEO der NEW WORK SE, ist klar, dass sich Arbeitgeber auch deshalb zukünftig im Kampf um die Topkräfte noch mehr anstrengen müssen: „Während früher ja so ganz steil die Karriereleiter erklommen wurde und es auf das Gehalt und die Position ankam, haben heute die Leute viel mehr Brüche in ihrem Lebenslauf. Weil ihnen andere Sachen wichtig sind, und danach wählen sie auch die Arbeitgeber aus.“ Dabei werde das Thema Purpose, also die Sinnhaftigkeit der eigenen Arbeit, immer mehr Bedeutung gewinnen.
Gerade bei gesuchten Fachkräften ist dieser Trend zu beobachten: "Bei erfahrenen Spezialisten und jungen Talenten gleichermaßen ist in in stark nachgefragten Branchen wie dem Technologiesektor eine große Bewegung zu beobachten", sagt Anthony Klotz, Professor für Management an der Texas A&M University in den USA. Klotz gilt als Erfinder des Begriffs "Great Resignation". Seine Analyse dazu lautet: "Die Menschen suchen - und finden zunehmend - Jobs, die ihnen langfristig die richtige Bezahlung, die richtigen Sozialleistungen und die richtigen Arbeitsbedingungen bieten."
Eine große Zahl von Arbeitnehmer*innen ist auf dem Stellenmarkt aktiv unterwegs oder mindestens fest entschlossen, neue Wege in ihrer Karriere zu gehen. Viele von ihnen haben ein ganz konkretes Ziel: Sie suchen nach einer besseren Work-Life-Balance. "Die Menschen sind jetzt besser in der Lage, ihre Arbeit mit ihrem Leben in Einklang zu bringen, anstatt ein Leben zu haben, das sich in ihre Arbeit hineinzwängt", sagt Klotz.
So paradox es klingt: Die Pandemie hat vielen Menschen dabei geholfen, mehr von dem zu finden, was sie von ihrer Arbeit erwarten - und es auch zu bekommen. Aber handelt es sich bei diesem Trend nur um ein kurzfristiges Phänomen, oder ist ein groß angelegter Umbruch auf dem Weg in die Zukunft der Arbeit?
Zwar gab es schon früher große Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt - sei es durch neue Beschäftigungsmöglichkeiten im Zuge des Wirtschaftsbooms der Nachkriegszeit oder durch den Verlust von Arbeitsplätzen während der Weltwirtschaftskrise und der Großen Rezession - doch die Massenbewegung, die wir heute erleben, hat einen großen Unterschied: "Neu ist, dass berufstätige Menschen jetzt eine echte Wahl haben", sagt Grace Lordan, Professorin für Verhaltenswissenschaften an der London School of Economics. "Früher, in der Zeit der industriellen Revolution, waren die meisten Menschen nicht qualifiziert genug, um die gut bezahlten Jobs zu bekommen. Jetzt sind Wissensarbeiter so gefragt, dass es einen Fachkräftemangel gibt."
Zudem bedeuten die Möglichkeiten, die sich durch die neuen hybriden oder vollständig remote organisierten Arbeitsplatzlösungen eröffnen, dass Millionen von Arbeitnehmern jetzt Zugang zu neuen Stellen haben, die ihnen zuvor schon geografisch gar nicht zugänglich waren. Etliche Unternehmen stellen deshalb bereits jetzt ihre Arbeitsmodelle auf diese neue Flexibilität um, um Talente für sich zu gewinnen - oder bieten als Gegenreaktion darauf höhere Löhne als Treueprämien an.
Auch Lordan ist der Ansicht, dass ein Großteil der Bewegung auf dem Arbeitsmarkt eine Umschichtung ist: Arbeitnehmer*innen verlassen ihren Karriereweg und suchen sich nach und nach Unternehmen, die Arbeitsmodelle und Vergünstigungen anbieten, die ihren Präferenzen entsprechen. "Eine Zeit lang wird es ein Job-Hopping geben, weil Arbeitnehmer, denen flexible und hybride Arbeitsformen wichtig sind, bei Unternehmen landen, die dies anbieten", sagt sie. "Auf der anderen Seite werden Menschen, die Vollzeit im Büro arbeiten wollen, zu diesen Unternehmen wechseln, wo sie wahrscheinlich einen Ausgleich erhalten: ein höheres Gehalt."
Viele Unternehmen sind noch dabei, ihre langfristige Arbeitspolitik zu verfeinern - was bedeutet, dass weitere Umschichtungen bevorstehen. "Ein Großteil der derzeitigen Bewegung basiert auf extrinsischen Belohnungen: mehr Gehalt und Status", sagt Lordan. "Sobald sich die Unternehmen darauf geeinigt haben, ob sie in Zukunft hybrid, persönlich oder vollständig aus der Ferne arbeiten werden, werden wir mehr Menschen sehen, die aufgrund ihrer Work-Life-Balance umziehen.“
Schließlich werde eine deutlich größere Zahl von Arbeitnehmer in der Lage sein, eine Karriere zu gestalten, die besser zu ihrem Leben passe. "Wir werden sehen, dass mehr Menschen maßgeschneiderte Arbeitsregelungen haben werden", sagt Sozialforscher Klotz. Er gibt aber zu bedenken, dass diese Umstrukturierungen Jahre dauern werden, bevor sie sich einpendeln. "Während die Unternehmen all diese an sie neu herangetragenen Veränderungen vornehmen, wandern die Arbeitnehmer zu den passenden Arbeitsmodellen ab, die sie in der jeweiligen Phase ihres Lebens wünschen. Wir könnten deshalb für eine ganze Weile einen unruhigen Arbeitsmarkt erleben.“
Letztlich aber könnte dies für Millionen von Menschen ein besseres, erfüllteres Arbeitsleben bedeuten. Klotz: "Wenn diese Pandemie einen Silberstreif am Horizont hat, dann ist es der, dass sie hoffentlich zu einer dauerhaften Verbesserung der Arbeitswelt geführt hat."