Wenn Unternehmen in Turbulenzen geraten, werden immer öfter Frauen an der Spitze berufen, weil sie als gute Managerinnen von Krisen gelten. Was auf den ersten Blick wie ein Sieg für Diversität aussieht, entpuppt sich bei genauerem Hinsehen aber als komplexes Phänomen mit Risiko. Forschende nennen es die „gläserne Klippe“ – eine Karrierechance am Rand des Abgrunds.
Als die Deutsche Bahn kürzlich Evelyn Palla zur Vorstandsvorsitzenden berief, war das eine Premiere: Erstmals führt eine Frau den traditionsreichen, aber krisengeplagten Konzern. Viele feierten den Schritt als Durchbruch durch die „gläserne Decke“. Doch der Zeitpunkt der Ernennung der Südtirolerin lenkte den Blick auf ein anderes, weniger bekanntes Muster: Frauen übernehmen Spitzenpositionen besonders häufig dann, wenn Organisationen in der Krise stecken. Forschende sprechen in diesem Zusammenhang von der „gläsernen Klippe“.
Der Begriff beschreibt, dass Frauen statistisch überproportional oft in Führungsrollen berufen werden, wenn Unternehmen vor großen Herausforderungen oder gar dem Bankrott stehen. Eine Studie mit über 26.000 Fällen aus den USA belegt: Die Wahrscheinlichkeit, dass eine Frau in solchen Zeiten an die Spitze gelangt, liegt - wenn auch insgesamt auf immer noch niedrigem Niveau - rund 50 Prozent höher als unter stabilen Bedingungen. Auch deutsche Untersuchungen bestätigen dieses Muster: ein Zusammenhang von Krise, Frau und Führung. Unternehmen nutzen demnach gezielt die Berufung einer den bisher amtierenden Chefs „unähnlichen Person“ – häufig weiblich, mit anderer Herkunft oder Perspektive – als Signal für Wandel.
„Das Gefühl täuscht nicht, Frauen müssen öfter die Kohlen aus dem Feuer holen. Das ist wissenschaftlich abgesichert“, erklärt auch Professor Florian Kunze von der Universität Konstanz, der mit seinem Team seit Jahren zu Führungsstrukturen forscht. Obwohl Frauen insgesamt noch seltener als Männer in Krisen aufsteigen, habe die Berufung einer Frau in solchen Situationen symbolische Kraft: Sie stehe für Neuanfang, Aufbruch und Distanz zur alten Unternehmensführung, so der Wissenschaftler. Besonders deutlich werde das, wenn die neue Chefin – wie Evelyn Palla – aus dem Ausland kommt oder noch wenig Konzernzugehörigkeit hat.
Kompetenzen wie Change-Management, Stakeholder-Orientierung und empathische Kommunikation werden weiblichen Führungskräften besonders zugeschrieben und in Krisenzeiten zunehmend geschätzt. Aktuelle Beispiele zeigen, dass Frauen auch unter schwierigen Bedingungen erfolgreich führen können. Bettina Orlopp, seit vergangenem Jahr Chefin der Commerzbank, übernahm das Institut mitten in einer Übernahmeschlacht. Mit einem Führungsstil, der auf offene Kommunikation und Teamorientierung setzt, stabilisierte sie die Bank – der Aktienwert hat sich seither verdoppelt.
Doch das Phänomen "Gläserne Klippe" ist umstritten. Einige Forschende sehen keinen eindeutigen Zusammenhang zwischen Krisen und weiblichen Beförderungen. Andere argumentieren, Unternehmen nutzten die symbolische Wirkung gezielt – oder Frauen nähmen riskante Positionen an, weil sich selten vergleichbare Chancen bieten. Zwischen sozialem Wandel, wirtschaftlichem Druck und kulturellen Erwartungen verlaufe die Linie zwischen Fortschritt und Risiko oft gläsern dünn.
Thorben Hansen / red